Vorwort

Viren, die heilen – was könnte angesichts der Corona-Pandemie absurder klingen? Und doch: Es gibt Viren, die Menschenleben retten können. Von ihnen handelt dieser Ratgeber.

Diese Viren lassen Menschen in Ruhe. Sie infizieren nur Bakterien, vermehren sich in ihnen und töten sie. Darum wurden diese Viren Bakteriophagen getauft (kurz: Phagen), ein Kunstwort aus „Bakterium“ und dem altgriechischen Begriff „phagein“, der so viel wie „verschlingen“ oder „fressen“ bedeutet. Den unersättlichen Appetit der Phagen auf Bakterien kann man nutzen, um Infektionen im menschlichen Körper zu bekämpfen. Das funktioniert sogar bei Bakterien, die gegen Antibiotika resistent sind.

Die Phagentherapie wirkt also nach dem Prinzip: Der ärgste Feind meines Feindes ist mein Freund. Klingt elegant und simpel, und das ist es eigentlich auch. Aber in der Realität erweisen sich medizinische Therapien oft als wesentlich komplizierter als erhofft. Das ist bei den Phagen nicht anders und so haben wir diesen Ratgeber geschrieben. Wir, das sind Christian Kühn und Thomas Häusler.

Christian Kühn: Ich bin Professor für Herzchirurgie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und leite das Nationale Zentrum für Phagen-Therapie der MHH. Ich betreue immer wieder Patienten und Patientinnen mit Infektionen, bei denen wir trotz großen Aufwands und höchster Sorgfalt keine Therapie mit Antibiotika finden, die Heilung bringt. Zum Beispiel bei einem 13-jährigen Jungen, nennen wir ihn Paul. Paul leidet an zystischer Fibrose, einer Erbkrankheit, die unter anderem die Lunge betrifft. Pauls Lunge war so geschädigt, dass wir schließlich beide Flügel durch ein Spenderorgan ersetzen mussten. Nach der Transplantation entwickelte sich in der Operationswunde eine Infektion. Selbst mit intensiver Behandlung konnten wir sie nicht heilen, da wir das Immunsystem mit Medikamenten unterdrücken mussten, damit die transplantierte Lunge nicht abgestoßen wurde.

Wegen solch schmerzhafter Erfahrungen habe ich nach Wegen gesucht, um trotzdem helfen zu können. Dabei stieß ich mit meinem Chef, Prof. Dr. Axel Haverich, auf die Phagentherapie. Seit September 2015 habe ich mit meinem Team mehr als 25 Menschen damit erfolgreich behandelt. Auch Paul. In den letzten Monaten und Jahren erreichen uns immer mehr Hilferufe von Patientinnen und Patienten, denen Antibiotika nicht mehr helfen können.

Thomas Häusler: Ich bin promovierter Biochemiker und Wissenschaftsjournalist. Ich hörte Ende der 1990er-Jahre zum ersten Mal von der Phagentherapie, die damals als noch exotischer galt als heute. Ich war fasziniert von der heilenden Kraft der Phagen und der schillernden Geschichte dieser Therapie, die vor über 100 Jahren ihren Anfang nahm. Im Jahr 2003 veröffentlichte ich ein erstes Buch über die Phagentherapie und ihre Geschichte. Seither kontaktieren mich regelmäßig verzweifelte Menschen, die von bakteriellen Infekten gequält werden und denen scheinbar niemand helfen kann.

Lange war es schwierig, diesen Menschen vernünftigen Rat zu erteilen. Die Phagentherapie war den allermeisten Ärzten in Westeuropa unbekannt. Eine Behandlung wurde fast ausschließlich im fernen Georgien, in Russland oder Polen angeboten. Heute fasst die Phagentherapie auch in Westeuropa allmählich Fuß, aber noch immer ist der Zugang für Patienten aufwendig und schwierig. Darum ist es Zeit für einen Wegweiser zu dieser Heilmethode.

Auch wenn Phagen vielen Menschen Hoffnung bringen können, sind sie kein Allheilmittel. Man muss in jedem einzelnen Fall prüfen, ob ihr Einsatz sinnvoll ist. Und trotz ihrer langen Geschichte ist die Phagentherapie noch immer eine experimentelle Methode. Gegenwärtig gibt es kein Medikament, das Phagen enthält und in Europa regulär zugelassen ist. Warum das so ist und was es bedeutet, erklären wir in diesem Buch. Wir diskutieren, in welchen Fällen der Einsatz von Phagen helfen könnte, und wir zeigen Wege zu einer Behandlung auf.

Dieser Ratgeber baut auf der Arbeit und der Erfahrung zahlreicher Wissenschaftlerinnen und Ärzte auf. Mit vielen von ihnen haben wir über die Jahre gesprochen, von vielen haben wir die Publikationen studiert. Auch von Patientinnen und Patienten haben wir viel gelernt. Ohne sie alle wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Ihnen gebührt unser Dank. Wir danken auch Dr. Evgenii Rubalskii und Dr. Stefan Rümke. Sie sind Teil des Phagenteams an der MHH und haben zu diesem Buch wesentlich beigetragen.

Wir haben in diesem Buch weibliche, männliche und neutrale Formen im Wechsel verwendet. Selbstverständlich sind jeweils alle Menschen angesprochen.

Hannover und Basel, im September 2022

Christian Kühn und Thomas Häusler