An den Grenzen der Medizin

Lesen Sie dieses Kapitel, wenn Sie erfahren wollen, …

  • wie die Phagentherapie einem Kleinkind das Leben gerettet hat,
  • wie ein typischer Fall aussieht, bei dem die Therapie heute eingesetzt wird,
  • welche Schwierigkeiten dabei auftreten können.
  • Kurz: Bekommen Sie einen ersten spannenden Eindruck von der Phagentherapie.

Wäel lebt

Manchmal würfelt die Natur und die betroffenen Menschen müssen sich mit den Folgen auseinandersetzen. Genauso die Ärzte, die ihnen zu helfen versuchen.

Der kleine Waël, zum Beispiel. Ein paar Wochen nach seiner Geburt verfärben sich seine Haut und das Weiße seiner Augen gelblich. Die Ärzte suchen nach der Ursache für die Gelbsucht und werden schließlich fündig: Waël leidet an einer Gallengangatresie. Dieses Leiden trifft eines von 10’000 bis 20’000 Neugeborenen. Bei ihnen ist die Verbindung von der Leber zum Zwölffingerdarm – also der Gallengang – blockiert. Da die Leber weiterhin Gallenflüssigkeit produziert, entsteht ein fataler Stau in der Leber. Wie es zu den blockierten Gallengängen kommt, ist nicht restlos geklärt. Klar ist aber, was ohne Behandlung folgen würde: Die Leber vergiftet sich selbst, sie vernarbt zunehmend und kann immer weniger leisten. Ohne Behandlung wäre eine Zirrhose unausweichlich, dann folgte der Tod.

Etwa zwei Monate nach der Geburt wird Waël operiert. Die Chirurgen entfernen die blockierten Gallengänge und die Gallenblase und verbinden den Dünndarm direkt mit der Leber. So kann die Galle abfließen. Doch diese sogenannte Kasai-Operation genügt in vielen Fällen nicht. Der Gallenfluss bleibt ungenügend und die Babys benötigen nach einiger Zeit eine Lebertransplantation.

Auch Waël. Seine Eltern reisen mit dem einjährigen Jungen aus der algerischen Heimat nach Brüssel, wo er im Krankenhaus St. Luc Stücke einer Spenderleber transplantiert bekommen soll. Weil innerhalb der nötigen Frist kein geeignetes Spenderorgan gefunden wird, hilft Waëls Vater aus, auch wenn seine Leber nicht vollständig passt. Am 26. September 2018 wird das Baby operiert.

Alles scheint gut zu verlaufen, nach kurzer Zeit kann Waël von der Intensiv- auf die normale Station verlegt werden. Doch dann Anzeichen eines septischen Schocks: Fieber, Herzjagen, schnelle Atmung. Eilends untersuchen die Ärzte den Bauchraum mit Ultraschall und sind schockiert: Sie sehen Flecken, wo keine sein dürften – vermutlich Darminhalt, der in den Bauchraum gelangt ist.

Waël wird sofort operiert. Die Chirurgen entfernen die Ansammlungen von Fäkalien aus seinem Bauchraum, sie sind erschreckend groß. In der Verbindung zwischen Darm und Leber, die sie während der Transplantation hergestellt hatten, damit die Galle ihren Weg findet, entdecken die Chirurgen kleine Öffnungen. Im Blut und im Eiter aus Waëls Körper wachsen im Diagnoselabor Escherichia-coli-Bakterien. Waël erhält Antibiotika.

Nun scheint sich alles gegen das Baby zu verschwören. Im Blut tauchen weitere Bakterien auf: Klebsiellen und Enterokokken. Dann tritt erneut ein Schock auf, weil Waël das Medikament nicht verträgt, das die Abstoßung der transplantierten Leber unterdrücken soll. 15 Tage nach der Transplantations-OP muss Waël erneut auf die Intensivstation – wieder Verdacht auf einen septischen Schock, obwohl die Ärzte diesmal keine Bakterien finden. Trotzdem verabreichen sie dem Baby drei verschiedene Antibiotika. Kurz darauf braucht es zusätzlich Medikamente gegen Cytomegaloviren, die sich nun auch noch in seinem Körper vermehren.

Am 15. Oktober, 20 Tage nach der Transplantation, entdecken die Ärzte in einem Abstrich aus Waëls Enddarm ein weiteres Bakterium: Pseudomonas aeruginosa (Abb. 2 und 3, Seite 210). Auf den ersten Blick scheint sich der Keim zwar nicht am mikrobiellen Angriff auf das Baby zu beteiligen. (Das gibt es öfter: Viele Bakterien, die potenziell Infektionen auslösen können, leben auf der Haut oder in der Nase eines Menschen, ohne Probleme zu machen.) Aber in diesem Fall werden die Ärzte nervös, denn sie dämpfen wegen der Organtransplantation das Immunsystem des Babys mit Medikamenten, und genauere Tests zeigen, dass dieser Pseudomonas-Keim gegen fast alle Antibiotika resistent ist.

Drei Wochen später beginnt die sich abzeichnende Katastrophe: Waëls Zustand verschlechtert sich, er rutscht in einen septischen Schock, die Cytomegaloviren vermehren sich plötzlich noch stärker, der Körper stößt die Spenderleber immer heftiger ab. Die Ärzte verabreichen verschiedene Antibiotika, trotzdem geht es dem kleinen Jungen sehr schlecht. Er hat hohes Fieber, eine stark entzündete Leber und zum ersten Mal taucht der Pseudomonas-Keim im Blut auf.

In den kommenden Tagen erleiden Waël und seine Eltern eine Achterbahnfahrt des Schreckens: Sein Fieber steigt, die Ärzte geben ihm einen Cocktail aus Antibiotika, dann wird es wieder besser, die Medikamente werden abgesetzt. Wieder hohes Fieber, wieder Antibiotika … Weil der Pseudomonas-Keim hochresistent ist, müssen die Infektiologen sogenannte „Last-line“-Antibiotika einsetzen, Antibiotika der letzten Hoffnung. Sie wirken zwar in diesem Fall, aber man erkauft sich ihren Effekt oft mit starken Nebenwirkungen.

Waël erhält unter anderem Colistin. Es ist seit den 1950er-Jahren bekannt, wurde zwischenzeitlich aber nicht mehr eingesetzt, weil es Nieren und Nerven schädigen kann. Heute müssen die Ärzte in verzweifelten Fällen wieder zu Colistin greifen, weil es das letzte ist, was noch hilft. Ein Beelzebub. In einer Publikation von 2010 mit dem Titel „Colimycin: Ein altes Antibiotikum, das man kennenlernen muss“ schrieb der französische Kinderarzt Robert Cohen: „Colimycin ist ein Antibiotikum so komplex wie kein anderes (bis jetzt haben wir darüber mehr Fragen als Antworten) und es ist extrem schwer einzusetzen. Es sollte nur verwendet werden, wenn es absolut notwendig ist.“2

Die Lage ist also ernst, wenn man mit Colistin behandelt werden muss. Bei Waël, so stellt sich bald heraus, ist sie nahezu ausweglos: Weitere Labortests deuten darauf hin, dass der Pseudomonas-Keim selbst gegen Colistin resistent ist – und zusätzlich reagiert das Baby mit starken allergischen Reaktionen auf das Medikament. Waël liegt längst wieder auf der Intensivstation. Seine Eltern sind verzweifelt. „Tag und Nacht hat Waël Antibiotika bekommen“, erzählt seine Mutter Khadidja Rezig später. „Alles, was es auf der Welt gibt, wurde ausprobiert. Nichts hat geholfen.“ Ihr Mann Sofiane hat auf seinem Mobiltelefon Videos aus diesen schrecklichen Tagen gespeichert. Sie zeigen ein abwechselnd apathisches, dann wieder rastloses Kind. Seine Haut ist gelb, der Bauch aufgedunsen, vermutlich von großen Abszessen in der Leber. „Er zitterte die ganze Nacht, schlief nicht, trotz all der Medikamente. Es gab Momente, in denen wir jede Hoffnung verloren“, erinnert sich Khadidja Rezig.

Am 19. November, 53 Tage nach der Lebertransplantation, enthüllen Untersuchungen ein Bild des Schreckens in Waëls Leber: Mehrere Abszesse, verengte Gallengänge im Innern des Organs, die Gänge Richtung Darm sind entzündet. In seinem Körper tobt eine schwere Sepsis, verursacht durch die hochresistenten P. aeruginosa. Angesichts der Abstoßung würden die Ärzte normalerweise eine weitere Lebertransplantation ansetzen, um das zerfressene Organ auszutauschen. Wegen der akuten Infektion ist daran nicht zu denken.

Vier Tage später spitzt sich die Lage weiter zu, berichtet der Infektiologe Dimitri Van der Linden später auf einem Kongress. Er hat Waël behandelt. Selbst ein Cocktail aus vier Antibiotika habe die Pseudomonaden nicht aus dem Blut des Babys vertreiben können. Waël zittert, Schüttelfrost peinigt seinen kleinen Körper. „Wir waren in einer Sackgasse angelangt.“

Hilfe in höchster Not

Dimitri Van der Linden wählt die Nummer von Patrick Soentjens, einem Arzt am Königin-Astrid-Militärkrankenhaus. Es liegt keine acht Kilometer von der Klinik St. Luc entfernt auf der anderen Seite Brüssels. An diesem Krankenhaus gibt es ein Team, das die Phagentherapie erforscht, Phagenpräparate herstellt und sie Ärzten zur Verfügung stellt. Patrick Soentjens koordiniert die Zusammenarbeit der Phagenforscherinnen und der behandelnden Ärzte. „Ich fragte ihn, ob sie uns Phagen schicken können“, erzählt Van der Linden. Weil die Phagentherapie nicht regulär zugelassen ist, muss er die verzweifelten Eltern informieren. Khadidja Rezig: „Ich erinnere mich noch genau, als die Ärzte kamen und uns sagten, dass sämtliche Antibiotika nichts mehr ausrichten würden, und uns zum ersten Mal von der Phagentherapie erzählten. Zuerst waren wir sehr beunruhigt, weil wir davon noch nie etwas gehört hatten. Aber nach zehn Minuten Nachdenken stimmten wir zu, wir wussten ja: Wir können sonst nichts mehr für Waël tun. Es war unsere letzte Chance, entweder die Phagen oder – nichts.“ Auch das Ethik-Komitee der Klinik wird eiligst einberufen und um Zustimmung gebeten.

In denselben Stunden machen die Forscher im Königin-Astrid-Krankenhaus das Phagenmedikament fertig und lassen es eiligst in die Klinik St. Luc bringen. Um 17 Uhr trifft es dort ein. Kurz darauf beginnt die Behandlung. Per Infusion schleusen die Ärzte die Viren in Waëls Blut. Ein Radiologe nimmt seine Leber mit Ultraschall ins Visier und es gelingt ihm, eine Nadel in einen der Abszesse im Organ vorzutreiben – darauf pumpen die Ärzte durch die Nadel langsam eine Lösung mit Phagen direkt in den Eiterherd, direkt in die Bakterien-Brutstätte.

Wie alle Viren haben Phagen nur ein Ziel: Sich auf Kosten ihrer Opfer zu vermehren. Dazu dockt ein Phage ans Äußere eines Bakteriums an und injiziert sein Erbgut ins Innere. Dort überlistet es die bakterielle Zellmaschinerie, sodass diese nur noch neue Phagen produziert. Schließlich wird die Bakterienhülle aufgelöst und die jungen Phagen strömen hinaus – bereit für neue Beute. Werden die Bakterienkiller in den Körper eines Patienten geschleust, können sie die Bakterien so weit dezimieren, dass das Immunsystem den Rest erledigen kann. Ist die Infektion besiegt, verschwinden die Phagen aus dem Körper des Geheilten, weil es dort keine Bakterien mehr gibt, in denen sie sich vermehren könnten. (Wir erläutern diese Vorgänge in den Kapiteln 3 bis 5 ausführlich.)

Waëls Zustand ist derart verzweifelt, die Ärzte müssen so schnell handeln, dass sie sogar eine der wichtigsten Regeln bei der Behandlung mit Phagen außer Acht lassen müssen. Phagen sind äußerst wählerisch. Es gibt unzählige Arten, die jeweils nur eine einzige Bakterienart attackieren. Zum Beispiel Pseudomonas aeruginosa, jene Spezies, die Waël bedroht. Oder Staphyloccocus aureus, eine Spezies, die Haut, Weichteile oder Knochen infizieren kann. Die meisten Phagenarten sind sogar so spezifisch, dass sie nur einzelne Unterarten einer Bakterienart befallen (auch zu all dem später mehr).

Für den Infektiologen heißt das normalerweise: Er muss verschiedene Phagen zur Hand haben und er muss vor einer Behandlung testen, welcher Phage gegen die Bakterien seines Patienten aktiv ist. Bei Waël ist dies allerdings graue Theorie, berichtet Dimitri Van der Linden später auf dem Kongress: „Wir schickten Proben der Bakterien für diese Tests ins Königin-Astrid-Krankenhaus. Aber auf die Ergebnisse warten konnten wir nicht.“ Die Ärzte spritzen Waël sofort, was an Pseudomonas-Phagen vorrätig ist – ein Cocktail aus zwei verschiedenen Phagenarten3 –, und bangen. Die Ergebnisse der Tests wollen sie später berücksichtigen – sofern es die Möglichkeit dazu überhaupt noch geben wird.

Zuerst sieht es ganz so aus, als vollführten die Phagen die Magie, die sich Waëls Eltern und Ärzte von ihnen erhoffen. Bereits 36 Stunden, nachdem die ersten Phagen in die Venen des Babys geströmt sind, sind in seinem Blut keine Bakterien mehr nachzuweisen. Doch sechs Tage später tauchen sie dort und in Proben aus Abszessen wieder auf. Die Phagenspezialisten des Königin-Astrid-Krankenhauses raten zur doppelten Phagendosis. Infektiologe Van der Linden folgt dem Rat. Doch am nächsten Tag muss er die regelmäßige Injektion der Phagen in den Leberabszess stoppen, Waël reagiert mit Unruhe auf diese Behandlung. Die Phageninfusionen aber – jeden Tag während sechs Stunden – werden fortgesetzt, und auch Antibiotika bekommt der Kleine nach wie vor.

Langsam tritt Besserung ein. Das Fieber verschwindet, die Haut nimmt eine normale Farbe an, Waël wird lebendiger. Zwar finden die Ärzte an zwei Tagen nochmals Bakterien in seinem Blut, danach aber nicht mehr. Die Heilung schreitet voran. Vollständig wird sie allerdings erst möglich sein, wenn Waël erneut eine neue Leber bekommen haben wird. Das Organ in seinem Körper ist durch die Abstoßung und die lang anhaltende Infektion unrettbar geschädigt. Zudem vermögen die Phagen P. aeruginosa im Innern der Leber nicht vollständig zu vernichten.

Am frühen Morgen des 3. Februar, an einem Sonntag mehr als vier Monate nach der ersten Transplantation, klingelt auf Waëls Krankenstation das Telefon: Irgendwo in Europa ist ein Mensch zu Tode gekommen und seine Leber passt. Das Organ wird express nach Brüssel geschickt und die Chirurgen öffnen erneut den Körper des Jungen. Sie blicken auf eine schwer malträtierte Leber, übersät mit großen, schwarzen Flecken: Infektionsherde, abgestorbenes Gewebe. Die Ärzte trennen die Gefäße, die das alte Organ mit Waëls Körper verbinden, und entfernen es. Dann waschen sie die Körperhöhle mit 250 Milliliter Phagenlösung aus. Sie soll die Pseudomonas-Keime neutralisieren, die da vielleicht noch lauern. Dann setzen sie die neue Leber ein.

Proben, während der Operation entnommen, kommen positiv aus dem Labor zurück: Noch immer lebt im Innern Waëls ein halber Bakterienzoo: P. aeruginosa, Enterococcus faecium, Stenotrophomonas maltophilia. Darum bekommt er für weitere zwei Wochen täglich Phageninfusionen und einen Cocktail verschiedener Antibiotika. Dann werden sie abgesetzt. Waël hat während 86 Tagen Infusionen mit Phagen bekommen, so lange wie nur wenige vor ihm. Er wird gesund, meistert den schweren, hartnäckigen Infekt, obwohl er wegen der Transplantation Medikamente bekommt, die sein Immunsystem dämpfen.

Als einer von uns (TH) vier Monate später Waël und seine Eltern in Brüssel kennenlernt, trifft er auf einen quicklebendigen Jungen, der sich energisch meldet, wenn die Erwachsenen zu lange quatschen. Die unvorstellbaren Strapazen sind ihm nicht anzumerken – seinen Eltern allerdings schon, ebenso die enorme Erleichterung, dass ihr Kind trotz allem überlebt hat. Die junge Familie trifft an diesem Tag zum ersten Mal auf die Forscher des Königin-Astrid-Militärkrankenhauses, die für Waël die Phagen hergestellt haben, es kommt zu rührenden Szenen. Khadidja Rezig bedankt sich „für das Wunder“. Jean-Paul Pirnay, der Leiter des Forschungsteams, ist sichtlich gerührt, aber auch etwas verlegen. Er sagt: „Es ist schon befriedigend, wenn man nach den vielen Stunden, Tagen und Wochen Arbeit im Labor die Menschen trifft, denen man damit helfen konnte.“

Weil die Behandlung mit Phagen eine experimentelle Therapie ist und weil zumindest in Westeuropa vor Waël selten ein so kleines Kind damit behandelt worden ist, sagt Khadidja Rezig: „Bevor die Ärzte uns an jenem Tag gefragt haben, hatten wir noch nie von dieser Therapie gehört. Waël war das erste Baby, an dem man sie ausprobiert hat. Er war so etwas wie ein Versuchskaninchen. Diese Entscheidung war wirklich schwierig … Aber was kann man tun? Man kann doch ein Baby nicht einfach sterben lassen.“

Am Tag dieses Treffens findet am Königin-Astrid-Militärkrankenhaus ein kleiner Phagentherapie-Kongress statt, an dem Waëls Infektiologe, Dimitri Van der Linden, seinen Vortrag mit folgenden Worten beendet: „Ohne die zweite Lebertransplantation hätte Waël nicht überlebt – aber wir behandelnden Ärzte sind überzeugt davon: Die Phagen haben für ihn den Unterschied gemacht.“

Keine Methode wie jede andere

Waëls Geschichte rückt wichtige Aspekte der Phagentherapie in den Blick. Einen haben wir bereits mehrfach erwähnt:

  • Es gibt noch keine regulär zugelassenen Phagenpräparate, die Methode gilt als experimentell. Dies hat eine Reihe von Folgen, die wir besprechen werden.
  • Es gibt keinen geregelten Zugang zur Phagenbehandlung. In vielen Fällen kennt ein behandelnder Arzt die Methode kaum und zieht sie nicht in Erwägung. Man muss sich als Patient oder Angehörige oft selbst um eine Abklärung bemühen, ob der Einsatz von Phagen sinnvoll sein könnte.
  • Ob und wie man eine Behandlung mit Phagen erhält, ist in den Ländern unterschiedlich geregelt. Grundsätzlich gilt Artikel 37 der Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes: Sind in einem Krankheitsfall alle zugelassenen Behandlungsoptionen ausgeschöpft, kann ein Arzt alternative Ansätze einsetzen. Die Patientinnen oder gesetzlich berechtigte Vertreter müssen umfassend über die gewählte Methode informiert werden und sie müssen ihr zustimmen.
    In manchen Ländern, zum Beispiel Belgien, gibt es spezifische Regeln für die Phagentherapie, die den Einsatz erleichtern – in Deutschland, Österreich und der Schweiz ist dies gegenwärtig nicht der Fall (mehr dazu in Kapitel 6).
  • Phagentherapie hat verglichen mit Antibiotika einige Eigenheiten, zum Beispiel die erwähnte Spezifität der Phagen. Darum muss vor ihrem Einsatz mit Labortests geprüft werden, welche Phagen gegen die Bakterien eines Patienten Wirkung zeigen. Dies erschwert den Einsatz in akuten Notfällen. Darüber hinaus führen die Eigenschaften der Phagenbehandlung dazu, dass sie für manche Infekttypen geeigneter erscheint als für andere. Ein simples Beispiel: Wenn für ein bestimmtes Bakterium keine Phagen verfügbar sind, ist keine Behandlung möglich (mehr dazu in Kapitel 3).
  • Es gibt bei vielen Aspekten der Phagentherapie Fragen und Unklarheiten, zum Beispiel, wie sich Phagen im Körper genau verhalten (Pharmakologie, Pharmakokinetik und Interaktion mit dem Immunsystem[FN4]). Das macht es für die behandelnden Ärzte und Ärztinnen manchmal schwierig zu entscheiden, ob und wie sie die Phagen im konkreten Fall einsetzen sollen. Im Gegensatz dazu gibt es für die meisten Anwendungsgebiete von Antibiotika Richtlinien, die von den Fachgesellschaften erarbeitet und fortlaufend angepasst werden (Kapitel 5).
  • Die Wirksamkeit der Phagen ist nicht mit großen klinischen Studien belegt. Es gibt jedoch viele Hinweise aus verschiedenen Quellen: wissenschaftlich gut dokumentierte Fallberichte, Tierversuche, alte klinische Studien, die heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen, aber zumindest als Indizien gewertet werden können. Allerdings wurden auch negative Resultate gemeldet, diese dürfen nicht vergessen werden. Sie geben Hinweise darauf, für welche Indikationen die Phagen ungeeignet sein könnten oder welche Bedingungen für einen erfolgreichen Einsatz erfüllt sein müssen (Kapitel 5 und 6).
  • Bisher wurden nach dem Einsatz von Phagen kaum Nebenwirkungen gemeldet – wenn die Qualität der eingesetzten Präparate hoch war. Selbst bei langem Einsatz nicht, wie bei Waël, dem fast drei Monate lang Phagen intravenös verabreicht wurden. Phagen kommen in unvorstellbar großer Zahl in allen Ökosystemen der Erde vor – überall dort, wo auch ihre Beute lebt, die Bakterien. Das heißt, auch wir Menschen sind unser ganzes Leben lang von Phagen besiedelt, sei es im Darm, auf der Haut oder im Mund. Täglich nehmen wir sie mit der Nahrung auf. Phagen sind für den Körper nichts Unbekanntes (mehr dazu in Kapitel 8).

Fußnoten
1 Das 1. Kapitel im ersten Buch über Phagentherapie, das einer von uns (TH) 2003 veröffentlichte („Gesund durch Viren“, Piper, München), trug diesen Titel. Der Titel hier ist ein bewusstes „Eigenplagiat“, denn trotz fast zweier Jahrzehnte Forschung zeigen antibiotikaresistente Bakterien der Medizin nach wie vor ihre Grenzen auf.

2 Colimycin ist ein anderer Name für Colistin.

3 Organismen wie Bakterien, Tiere oder Pflanzen werden in der Biologie nach demselben Grundsystem geordnet und in einzelne Arten und Verwandtschaftsgruppen eingeteilt. Viren passen nur bedingt in dieses Ordnungsschema, da sie von Natur her deutlich anders sind: Sie sind auf sich gestellt nicht lebensfähig, sondern benötigen für ihre Vermehrung einen Wirtsorganismus – das HI-Virus zum Beispiel den Menschen, verschiedene Phagen unterschiedliche Bakterienarten. Phagen verändern (wie alle Viren) ihr Erbgut ständig, es ist deswegen gar nicht so einfach zu entscheiden, welche Varianten jeweils in dieselbe Spezies-Schublade gehören und welche sich schon so verändert haben, dass sie eine eigene Spezies bilden. Forscher verwenden deshalb den Begriff „Art“ oder „Spezies“ bei Viren zurückhaltend und weichen auf Bezeichnungen wie „virale Population“ aus oder sprechen einfach von „Phage“, wenn eine solche Population gemeint ist. Wir halten es ähnlich, benutzen aber manchmal bewusst „Phagenspezies“ oder „Phagenart“, um deutlich zu machen, dass es sich um eine zusammengehörende Population oder Art handelt.

4 Auch wenn Phagen als Viren keine pharmazeutischen Präparate im klassischen Sinne sind, werden auch für sie die Begriffe Pharmakologie und Pharmakokinetik angewendet.